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Notizen zur Fotografie

Keliy Anderson-Staley: »[hyphen] AMERICANS«

Porträts mit langen Belichtungszeiten haben ihren eigenen Stil. Die abgebildete Person zeigt auf solchen Bildern eine eher gleichmütige Pose, das Gesicht einen ernsten Ausdruck, die Augen blicken starr. Solche Fotos verweisen nicht unbedingt auf den Charakter oder das Temperament des abgebildeten. Die Anmutung ist überwiegend das Ergebnis des Stillhaltens.

Dieser Effekt ist auf den Kopfbildern aus dem 19. Jahrhundert durchweg sichtbar; Belichtungszeiten im Minutenbereich waren damals die Regel. Als Stilmittel ein­gesetzt, sind lange Belichtungszeiten in der Porträtfotografie für mich auch heute noch reizvoll.

© Martin Frech: Fotografie eines Porträts, das ich als Ambrotypie auf schwarzem Glas angefertigt habe. Repro eines Silbergelatine-Abzugs.

© Martin Frech: Fotografie eines Porträts, das ich als Ambrotypie auf schwarzem Glas angefertigt habe. Repro eines Silbergelatine-Abzugs.

Lange Belichtungszeiten sind natürlich kein exklusives Merkmal der Arbeit mit silber­haltigen Emulsionen. Dennoch wird für entsprechende Projekte gerne mit klassischer Technik gearbeitet, mitunter sogar mit historischen Verfahren.

So hat die 1977 geborene amerikanische Photographin Keliy Anderson-Staley für ihr Projekt »[hyphen] AMERICANS« in den vergangenen Jahren hunderte von Tintype-Porträts angefertigt. Etwa 180 wurden kürzlich in der Light Work Gallery (Syracuse/NY) ausgestellt; im Katalog sind 43 abgedruckt. 1, 2 Auf ihrer Website ist ebenfalls eine Auswahl zu sehen. 3

Die Künstlerin arbeitet mit Kameras und Objektiven aus dem 19. Jahrhundert – nicht primär aus nostalgischen Gründen. Im Interview mit Brendan Carroll betont sie die Vorteile der historischen Technik für ihr Projekt. 4 Anderson-Staley arbeitet bei offener Blende und mit Belichtungszeiten um zehn Sekunden, ungefähr eine Gedanken-Länge. Dies und die geringe Schärfentiefe (sie fokusiert wie üblich auf die Augen) lässt die Porträts für sie lebendiger erscheinen als wenn sie mit aktueller Technik arbeitete. Darüberhinaus bedingen die technischen Gegebenheiten bei jeder Platte verschiedene Defekte in der Emulsion, Schlieren und andere Unregel­mäßigkeiten – für die Künstlerin eine Entsprechung zur menschlichen Unvoll­kommen­heit.

Der Titel »[hyphen] AMERICANS« betont, dass es sich bei den Abgebildeten um Amerikaner handelt. Der [Bindestrich] verweist jedoch darauf, dass die Wurzeln im Stammbaum vieler Amerikaner nicht in Amerika sind. Dieser Umstand kommt häufig zum Ausdruck, wenn die Personen etwa als chinesisch-amerikanisch, afrikanisch-amerikanisch oder irisch-amerikanisch beschrieben werden. Ein Teil der ameri­kanischen Identitäten ist durchaus von diesen Herkunfts-/Vorfahrens-Wurzeln geprägt. Gemeinsam verbindet alle jedoch der andere Teil, eben die ameri­kanische Identität, die Anderson-Staley im Titel ihrer Serie hervorhebt. Die Künstlerin legt Wert darauf, dass der Betrachter den Herkunfts-Aspekt, auf den man etwa aus den Gesichtszügen schließen könnte, aktiv verdrängt. Die Bilder sollen also nicht im Kontext einer interessengeleiteten Identitätspolitik gesehen werden.


1
Keliy Anderson-Staley: [hyphen] AMERICANS. In: Contact Sheet 163 (2011), S. 1 – 49.
2
http://www.lightwork.org/exhibitions/anderson-staley.html [2011-11-22; nicht mehr erreichbar]
4
Brendan Carroll: Keliy Anderson-Staley. Online verfügbar: ↬ http://brendanscottcarroll.wordpress.com/2011/07/12/keliy-anderson-staley/ [2011-11-27; 2020-05-17]

Zitierempfehlung:
Frech, Martin: Keliy Anderson-Staley: »[hyphen] AMERICANS«. In: Notizen zur Fotografie, 2011-11-27. Online: https://nzf.medienfrech.de/NzF/2011-11-27/Keliy-Anderson-Staley_hyphen-AMERICANS.html [Abrufdatum]