de | en
zurück
Notizen zur Fotografie

Hinweise zu Tobias D. Kerns Arbeit »Wissende Heiterkeit. Eine photographische Annäherung an Heideggers Feldweg.«

Abstract.
Am vergangenen Freitag [18.10.2013] haben wir mit einer Vernissage die Ausstellung »Transition III. Wissende Heiterkeit. Eine photographische Annäherung an Heideggers Feldweg.« mit Bildern von Tobias D. Kern eröffnet. Zur Einführung habe ich eine kurze Ansprache gehalten, die ich nachfolgend dokumentiere.

Tobias D. Kern zeigt uns Land­schafts­foto­grafien.
Wir sehen Bilder einer flachen Agrar­land­schaft: gezeigt werden Felder und Wiesen, auf einigen Fotos ist ein Wald­rand zu sehen.
Die Bilder sind augen­scheinlich in verschiedenen Jahres­zeiten aufgenommen und zu unter­schiedlichen Tages­zeiten.
Weder Personen sind zu sehen, noch bekannte Land­marken – wer nicht sehr orts­kundig ist, kann die Bilder schwerlich verorten.

Die Land­schaft erscheint vertraut, für mich hat sie etwas Alltägliches. So sieht es eben aus bei uns auf dem Land. Es ist keine vordergründig spektakuläre Kulisse, wie sie uns Frank Doering aus Nepal gezeigt hat. 1 Oder eben doch – je nach Stand­punkt. Vielleicht würde ein Nepalese aus Jomsom, der täglich die staubige Himalaya-Land­schaft vor Augen hat, gerade unsere Äcker bestaunen.

Auffällig ist, dass auf allen Fotos ein Stück geteerter Weg zu sehen ist. Der Unter­titel der Foto­serie weist uns darauf hin: Tobias D. Kern hat entlang Martin Heideggers Feld­weg foto­grafiert.
Diese Foto­arbeit bezieht sich direkt auf den Heidegger-Text Der Feldweg2 und funktioniert ohne diesen nicht im Sinne des Foto­grafen. Kerns Idee war jedoch nicht, den Text zu illustrieren, sondern Bilder zu finden, die das für ihn Wesentliche des Textes auf der Bild­ebene transportieren.

Im Werk von Martin Heidegger (1889 – 1976) spielt die Idee des Weges – sowohl konkret als auch metaphorisch – eine wichtige Rolle. Sein Motto hieß »Wege, nicht Werke«. Für ihn vollziehen Denken und Philosophieren eine Bewegung und legen dabei einen Weg zurück; er sprach auch vom Weg seines Denkens.

Ich will hier weder auf Heideggers Philosophie noch auf sein Verhältnis zum National­sozialismus eingehen – wer sich dafür interessiert, wird schnell fündig; entsprechende Quellen sind leicht zugänglich.

Martin Heidegger wurde 1889 in Meßkirch geboren, einer Kleinstadt zwischen Donau und Bodensee südwestlich von Sigmaringen in Baden-Württemberg. Er ist dort aufgewachsen und auf die Gemeinde­schule gegangen. Später hat er in Freiburg studiert. Ab 1928 war er bis zur Emeritierung 1951 Professor in Freiburg. Er gilt als einer der einfluss­reichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Sein Werk ist umfangreich: die Gesamt­ausgabe soll dereinst in 102 Bänden vorliegen. 3

Heidegger war zeit­lebens vom Land­leben angetan und sehr heimat­verbunden – Groß­städte mochte er nicht. Freiburg, dem Süd­schwarz­wald und Meßkirch blieb er lebens­lang verbunden; die Provinz war seine schöpferische Land­schaft. Neben der Stadt­wohnung in Freiburg hatte die Familie seit 1922 in Todtnau eine Hütte, in die er sich häufig zurückzog; viele seiner Werke hat er dort geschrieben.
Heidegger starb 1976 in Freiburg, beigesetzt wurde er in Meßkirch.

Der Feldweg ist ein Essay, den der Philosoph 1949 zu seinem 60. Geburtstag geschrieben und zunächst nur als Privat­druck für seine Freunde herausgegeben hat.
Privat wohl auch deswegen, weil Heidegger seit 1946 und bis zu seiner Emeritierung durch ein Lehr­verbot vom universitären Betrieb ausgeschlossen war.

Martin Heidegger hatte ein enges Verhältnis zu seinem jüngeren Bruder Fritz, der zeitlebens in Meßkirch blieb. Er besuchte diesen häufig und ist mit ihm oft auf dem Feldweg spaziert.

Im Feldweg-Text beschreibt der Autor die Topo­graphie von Meßkirch und die Lebens­welt seiner Jugend, vermischt mit einigen Denk­erfahrungen. Er erzählt von einem Spazier­gang, der hinter dem Schloss von Meßkirch beginnt und bis zu einer Bank am Wald­rand führt. Von dort geht es dann wieder zurück nach Hause, es ist kein Rundweg.

Tobias D. Kern wurde in wurde in Meßkirch geboren, aufgewachsen ist er in Göggingen, einem Dorf in der Nähe von Meßkirch. Er hat in Meßkirch das am Feld­weg gelegene Martin-Heidegger-Gymnasium besucht. Kern kennt den Feld­weg also schon seit seiner Jugend: ein Teil davon diente als Lauf­strecke in seinem Sport­unterricht.

Tobias D. Kern lebt und arbeitet schon lange in Köln, fühlt sich seiner ursprünglichen Heimat jedoch noch immer sehr verbunden. Es ist eben die Gegend, in der er geboren wurde, aufwuchs und in der sich zunächst Identität, Charakter und Welt­auffassungen entwickelten; Heimat also weniger verstanden als Idylle, sondern eher als Ort des Individualismus.

Den Feldweg-Text kennt Kern ebenfalls seit langem und hat sich ab 2000 foto­grafisch an dem Thema versucht. Er kam damals jedoch nicht über das Heimat-abbildende hinaus und fand seine Bilder daher wenig überzeugend.

Nach der Katastrophe von Fukushima im Frühjahr 2011 erinnerte er sich jedoch wieder an den Text, in dem Heidegger prophetisch von den »Riesen­kräften der Atom­energie« schreibt 4, denen wir uns ausliefern. Neben dem nach wie vor virulenten heimat­fotografischen Interesse waren es Heideggers technik­kritische Passagen, die ihn angesprochen und ihm den Impuls zu seiner aktuellen Arbeit gegeben haben.

Tobias D. Kern hat in den vergangenen beiden Jahren Heideggers konkreten Feld­weg foto­grafiert, also den Weg in Meßkirch, der im Feldweg-Text beschrieben ist.
Genauer gesagt: er hat einen Teil des heutigen Weges fotografiert, der Meßkirch mit dem Nachbar­ort Bichtlingen verbindet. Zu Heideggers Zeiten war das die »Hofgartenstraße«, im weiteren Verlauf dann das »Bichtlinger Sträßle«. Heute ist der Weg eine geteerte Straße, in den frühen 1970er-Jahren umbenannt in »Am Feldweg«. Die berühmte Bank, auf der der junge Heidegger angeblich die klassischen Werke der Philosophie gelesen hat 5, wurde zuletzt 2010 erneuert. Sie ist auf einigen von Kerns Bildern zu erahnen.

Aber was heißt das, einen Weg zu foto­grafieren?
Selbst wenn man Anfang und Ende exakt festlegt, ist so ein Weg ziemlich lang – der passt ja sogar schwerlich auf ein Luft­bild. Es wird auch kaum jemand eine Bilder­serie erwarten, die format­füllend den kompletten Teer­belag des Weges zeigt, oder alle Pflaster­steine etc.

Das heißt, ein Fotograf muss Entscheidungen treffen – und der Fotograf hat sich entschieden. Tobias D. Kern hat nah am Text gearbeitet – nicht nur, was den Gegen­stand betrifft. Auch die Ideen des Einfachen, des Bewahrenden, des Traditions­bewussten, die der Text vermittelt, haben ihn geleitet.

  1. Die Entscheidung für Schwarzweiß.
    Farbe lenkt ab, Schwarz­weiß fokussiert den Blick auf das Wesent­liche und steht für das Einfache. So sieht es Kern und betont zudem den ihm wichtigen hand­werklichen Aspekt der Bild­produktion.
    Die Entscheidung ist ambivalent. Denn auf der anderen Seite passt Schwarz­weiß perfekt zu Heidegger, dem begnadeten Selbst­darsteller. So kennen wir ihn – ob von den Fotos von Digne Meller Marcovicz (1934 – 2014) in seiner Hütte und auf seinen Spazier­gängen 6 oder von den Amateur­aufnahmen, die in der illustrierten Feldweg-Ausgabe den noch ungeteerten Feldweg zeigen. 7
  2. Kern hat mit der Groß­format­kamera auf Film gearbeitet. Das war zeit­auf­wendig und umständlich. Doch zum einen benötigte er die Verstell­möglich­keiten dieser Kamera, um die durch­gängige Schärfe vom Vorder­grund bis zum Horizont zu erzielen. Ebenso wichtig war ihm jedoch die Ent­schleunigung, die das Arbeiten mit dieser Kamera mit sich bringt. »Man schlupft unter das Tuch, dichtet es ab und wartet erst mal lange bis man, vor allem in der Dämmerung, überhaupt ein Bild sieht. Die Arbeit ist sehr langsam und manchmal ändert sich z. B. in der Morgen­frühe das Licht beim Sonnen­aufgang, bzw. bricht durch Nebel­schwaden ...« (Kern, 2013).
  3. Alle Fotos sind leicht weit­winklig im Hoch­format aufgenommen, die Kamera ist stets waage­recht ausgerichtet und zwar so, dass der Horizont jeweils exakt mittig liegt.
    Diese Setzungen sorgen für ruhige Bilder und geben der Serie einen formalen Zusammen­halt. Inspiriert ist dieser Aspekt der Bild­gestaltung wieder direkt von Heidegger, der in Bezug auf die Eiche, unter der die Bank steht, schrieb: »... wachsen heißt: der Weite des Himmels sich öffnen und zugleich in das Dunkel der Erde wurzeln «8
    Dem Gleich­gewicht von tragender Erde und weitem Himmel entspricht die mittige Horizont­teilung.
  4. Es sind keine Personen zu erkennen, nur gelegentlich als Silhouetten in der Ferne.
  5. Tobias D. Kern hat in jeder Jahres­zeit fotografiert und zu verschiedenen Tages­zeiten. Auch hier nah am Text, in dem es heißt: »In der jahreszeitlich wechselnden Luft des Feld­weges gedeiht die wissende Heiter­keit, deren Miene oft schwer­mütig scheint«. 9

Das Projekt erscheint wie eine Konkreti­sierung von Vilém Flussers Diktum, Foto­grafieren sei eine Geste, die philo­sophische Ein­stellungen in einen neuen Kontext übersetzt.

Vor einem Jahr haben wir hier Tobias D. Kerns Arbeit Stigmata gezeigt 10 – vorder­gründig eine Sammlung von Baum­zeichen, hintergründig eine Auseinander­setzung mit deutschen Wald-Phantasien.
Für seine Feldweg-Arbeit hat sich Kern wieder in die Natur begeben, um ein weites Feld zu beackern. Er hat mit diesen Bildern eine kohärente Foto­serie vorgelegt, die sich schlüssig in sein Gesamt­werk einfügt.


1
Transition I – Frank Doering: Der Weg am Schwarzen Fluss; Ausstellung; schaelpic photokunstbar, Köln; 18. März bis 3. Mai 2013;
meine Einführung: Frech, Martin: Hinweise zu Frank Doerings Arbeit »Der Weg am schwarzen Fluss«. In: Notizen zur Fotografie, 2013-03-18. Online: → medienfrech.de/foto/NzF/2013-03-18/Frank-Doering_Der-Weg-am-schwarzen-Fluss.html [2020-07-07]
2
Heidegger, Martin: Der Feldweg. 11. Aufl. Frankfurt/M.: Klostermann, 2006. ISBN 3-465-03491-0
4
Heidegger, M. (2006), a. a. O., S. 5
5
Heidegger, M. (2006), a. a. O., S. 1
6
Digne Meller Marcovicz: Martin Heidegger: Photos, 23. September 1966, 16. und 17. Juni 1968. Stuttgart: Fey, 1978
7
Heidegger, Martin: Der Feldweg. Bebilderte Sonderausgabe; mit einer Anmerkung von Hermann Heidegger. Frankfurt: Klostermann, 2010. ISBN 978-3-465-04092-7
8
Heidegger, M. (2006), a. a. O., S. 3
9
Heidegger, M. (2006), a. a. O., S. 5
10
Tobias D. Kern: Stigmata; Ausstellung; schaelpic photokunstbar; Köln; 22.09. bis 31.10.2010;
meine Einführung: Frech, Martin: Tobias D. Kern: »Stigmata«. In: Notizen zur Fotografie, 2012-09-24. Online: → medienfrech.de/foto/NzF/2012-09-24/Tobias-Kern_Stigmata.html [2020-07-07]

Vernissage in der schaelpic (Foto: Annette Völckner)

Transition III
Tobias D. Kern: Wissende Heiterkeit
Ausstellungsort: ↬ schaelpic photokunstbar
Schanzenstraße 27
51063 Köln
Tel. (02 21) 29 99 69 20
Ausstellungsdauer:
21. Oktober bis 22. Dezember 2013
(Mo. bis Fr., 10 bis 18 Uhr
und nach Vereinbarung)

Damit ist die Serie Transitionen I – III komplett:


Zitierempfehlung:
Frech, Martin: Hinweise zu Tobias D. Kerns Arbeit »Wissende Heiterkeit. Eine photographische Annäherung an Heideggers Feldweg.«. In: Notizen zur Fotografie, 2013-10-23. Online: https://nzf.medienfrech.de/NzF/2013-10-23/Tobias-Kern_Wissende-Heiterkeit.html [Abrufdatum]