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Giusi Fanella: »Living in China« | Anmerkungen

Martin Frech
Abstract.
Am 24. April 2009 wurde mit einer Vernissage in Köln die Aus­stel­lung mit Ar­bei­ten aus der Serie »Living in China« von Giusi Fanella er­öff­net. Zur Ein­führ­ung habe ich einen Vortrag vorbereitet, den ich hier do­ku­men­tie­re.

Giusi Fanella zeigt uns Men­schen. Frauen, Männer, Kinder. Alte und Junge, ein­zeln und in der Gruppe. Müde sehen sie aus, gelangweilt, konzentriert und skeptisch. Zwei Frauen tanzen, ein Kind wundert sich – oder wurde es erschreckt? Träumt die Frau? Dreht sich der Mann eine Zigarette? Wird da Wäsche ge­wa­schen? Ob die Leute arm sind oder wohlhabend, ob arbeitslos oder gerade bei der Ar­beit erkenne ich nicht. Es sind Stra­ßen­sze­nen in einer Stadt. Ein T-Shirt deutet die Glo­ba­li­sie­rung an.
Dem Serientitel entnehme ich, dass die Por­träts wahr­schein­lich in China ent­stan­den. Die Photos wirken ei­gen­tüm­lich zeitlos. Sie sind letztes Jahr (2008) ent­stan­den.

Ich war noch nicht in China. Den­noch er­schei­nen mir die Bilder seltsam be­kannt. Im Prin­zip kenne ich solche Bilder. Ich habe sie ge­sehen in New York, Quito und Berlin. Manche vielleicht auch in Tübingen, Arras oder Oer-Erken­schwick. Wie kann das sein?

Photos wirken realistisch. Wir sind daher stets versucht zu glauben, durch sie die Welt zu sehen oder gar zu begreifen – ein Ef­fekt, der als Ko­lo­nia­li­sie­rung der Welt durch den pho­to­gra­phi­schen Blick (Urs Strahel) be­schrie­ben wird. Vor jedem Bild stehen wir quasi auf ei­nem kleinen Feld­herrn­hü­gel und schauen wie durch ein Fenster auf die Welt – be­rüh­rungs­los, virtuell, teil­nahms­los beobachtend. Fanellas Serientitel deutet einen exotischen Kon­text an. Das wirkt, ich bekomme bei­na­he einen eth­no­lo­gi­schen Blick.

Da Pho­to­gra­phie schwach kodiert ist, kann jeder Betrachter letztlich vieles aus ei­nem Bild lesen; die Bildautorin hat da­rü­ber wenig Kontrolle. Diese paradoxe Ver­schrän­kung können Sie – sicher befördert durch die Motive – mit den in unserer Aus­stel­lung ge­zeig­ten Werken prototypisch und live erleben.

Giusi Fanella wurde 1981 in Mailand ge­bo­ren. Sie studierte an der dortigen Akademie der Schönen Künste; unter an­der­em hat sie sich mit religiöser Kunst be­schäf­tigt. Antonio Migliori, der in den 50er-Jahren seine groß­ar­ti­gen Neorealismo-Serien pho­to­gra­phier­te, war einer ihrer Lehrer. Studien in Dresden und Kassel schlossen sich an.

Fanella hat ihren Blick ge­schärft. Sie zeigt uns Ge­sich­ter, Emo­tio­nen und Gesten. Der Kon­text bleibt ver­bor­gen, die Be­deu­tung offen. Gefühle, menschliches Emp­fin­den sind eben orts­un­ab­hängig. Fanella hätte die Serie vielleicht auch in ihrem Wohnort Herne realisieren können.
Warum ist sie dann über­haupt so weit gereist?
Das hat sich ergeben. Die Ar­bei­ten ent­stan­den während eines Stu­dien­auf­ent­halts der Künst­le­rin in Hangzhou.

Schwarzweißbild: Ein Foto hängt an einer Wand. (Foto: Tobias D. Kern, 4/2009)
aus: Giusi Fanella, Living in China, In­stal­la­ti­ons­an­sicht schael­pic pho­to­kunst­bar (Foto: Tobias D. Kern, 4/2009)
Schwarzweißbild: Ein Foto hängt an einer Wand. (Foto: Tobias D. Kern, 4/2009)

Giusi Fanella hat die Men­schen – ihre Modelle – nicht ins Studio gebeten. Sie hat sie vor Ort auf­ge­sucht oder ist ihnen zufällig begegnet. Vielleicht war sie sogar darum bemüht, mög­lichst unbemerkt mit ihrer Klein­bild­ka­me­ra zu ar­bei­ten. Sie hat nicht in Büros, Kindergärten, Kran­ken­häu­sern oder Werkstätten pho­to­gra­phiert. Sie hat keine Ve­ran­stal­tung­en besucht oder an Fa­mi­lien­fes­ten teilgenommen. Giusi Fanella hat street pho­tog­ra­phy betrieben.

Damit steht die Künst­le­rin – ob sie will oder nicht – in einer langen Tra­di­tion: Eugène Atget, Henri Cartier-Bresson, Gyula Halász (Brassaï), Robert Frank, Elliott Erwitt oder Bruce Davidson sind he­raus­ra­gen­de Ver­tre­ter die­ses Genres. Nicht jeder kennt diese Namen. Aber wir kennen deren Bilder, von denen einige zu Ikonen ge­wor­den sind.

Street pho­tog­ra­phy ist nicht Bild­jour­na­lis­mus, wiewohl auch für street pho­to­graphs ein au­then­ti­scher, do­ku­men­ta­ri­scher Stil kenn­zeich­nend ist. Genre­ty­pisch zei­gen street pho­to­graphs anonyme, pro­to­ty­pi­sche Per­so­nen in öffentlichen Räumen.
Klas­si­sche street pho­tog­ra­phy wird idealerweise als Bild­band prä­sen­tiert (Robert Frank: Die Ame­ri­ka­ner (1958); René Burri: Die Deutschen (1962); David Bradford: Drive-by Shootings (2000)).

Spä­tes­tens hier grenzt sich Fanella deut­lich ab und geht einen völlig an­de­ren Weg. Sie prä­sen­tiert ihre Ar­bei­ten großformatig und rau aus­ge­ar­bei­tet, gerne ungerahmt an gebrauchten Wänden wie den unseren.

Die Groß­ver­grö­ße­run­gen hat sie im La­bor nicht auf die übliche Art ent­wick­elt, fixiert und aus­gewäs­sert (Schalen/Ent­wick­lungs­ma­schi­ne). Fanella hat die Pho­to­che­mie mit Schwämmen, Quasten und Pinseln auf das Pho­to­pa­pier auf­ge­tra­gen. Sie hat – ganz in der Tra­di­tion ihres Fachs – das be­lich­te­te Pho­to­pa­pier wie eine Leinwand bearbeitet; na­tür­lich unter Rotlicht.

Der Vorgang der Aus­ar­bei­tung sollte als eine zwei­te Ebene Ihrer Bilder sichtbar wer­den, diese sollten Spuren die­ser Bearbeitung zei­gen! Also musste sie bewusst un­kon­ven­ti­o­nell ar­bei­ten – sprich hand­werk­lich un­sau­ber.
Die­ses Vorgehen hat die gewünschten Effekte erzielt: wie durch Gaze blicken wir auf die Pho­to­gra­phi­en – ein Ver­frem­dungs­ef­fekt, der das an­ge­sproche­ne Fenster auf die Welt wie mit ei­nem Store verhängt.
Im wirklichen Leben sollen Stores die Privatsphäre schützen, in­dem sie als Sicht­bar­rie­re die Einsicht von außen er­schwe­ren. Und hier? Zü­geln sie unsere vo­yeu­ris­ti­sch­en Blicke? Oder schützen sie die Pho­to­gra­phier­ten vor der Strahel’schen Ko­lo­nia­li­sie­rung?

Damit nicht genug! Denn die Store-Spuren sind Spuren im doppelten Sinne.
Offen­sicht­lich sind das Wisch-Spuren. Zu­sätz­lich hat die Künst­le­rin je­doch eine intendierte Alterungs-Be­schleu­ni­gungs-Kom­po­nen­te ein­ge­ar­bei­tet: durch die un­voll­stän­di­ge Fixage und die un­ge­nü­gen­de Wässerung sind (zunächst unsichtbare) Spuren der Chemikalien vor­han­den. Diese reagieren im Laufe der Zeit, in­dem sich das Bild verfärbt. Das be­ginnt schon nach we­ni­gen Monaten.
Die Künst­le­rin sieht hierin Ana­lo­gien zu un­se­rem Denken und unseren Welt­an­schau­ung­en.

Giusi Fanella kommentiert mit ihrer Ar­beit – vielleicht au­gen­zwin­kernd, vielleicht aber auch un­be­wusst – die seit Susan Sontag kanonisierte Gewissheit, dass alle Pho­to­gra­phi­en das un­er­bitt­liche Verfliessen der Zeit bezeugen.

Farbbild: Eine Frau und ein Mann im Gespräch. (Foto: Andrea Jecke, 4/2009)
Giusi Fanella im Gespräch mit Tobias D. Kern, schael­pic pho­to­kunst­bar, Köln (Foto: Andrea Jecke, 4/2009)
Farbbild: Eine Frau und ein Mann im Gespräch. (Foto: Andrea Jecke, 4/2009)
Giusi Fanella: Living in China
Aus­stel­lungs­ort: ⁠ ⁠schael­pic pho­to­kunst­bara
Schan­zen­stra­ße 27
51063 Köln
Tel. (02 21) 29 99 69 20
Aus­stel­lungs­dau­er:
24. April bis 29. Mai 2009
(Mo. bis Fr., 10 bis 18 Uhr
und nach Vereinbarung)

Fußnoten.
ahttp://www.schaelpic.de/
bhttps://www.medienfrech.de/foto/NzF/2012-06-27_Martin-Frech_Tobias-Vollmer-China-Construction.html
chttps://www.medienfrech.de/foto/NzF/2012-11-21_Martin-Frech_Kris-Heide-Lost-in-Reflection-Shanghai.html

Weiterlesen: ⁠ ⁠Tobias Vollmer: »China Con­struc­tion«b, ⁠ ⁠Kris Heide: »Lost in Reflection – Shang­hai«c

Zitierempfehlung (.BibTeX, .txt):
Frech, Martin: »Giusi Fanella: ›Living in China‹ | Anmerkungen«. In: Notizen zur Fotografie, 2009-04-25. Online: https://www.medienfrech.de/foto/NzF/2009-04-25_Martin-Frech_Giusi-Fanella-Living-in-China-Anmerkungen.html
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Frech, Martin: »Giusi Fanella: ›Living in China‹ | Anmerkungen«. In: Notizen zur Fotografie, 2009-04-25. Online: https://www.medienfrech.de/foto/NzF/2009-04-25_Martin-Frech_Giusi-Fanella-Living-in-China-Anmerkungen.html$1