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Keliy Anderson-Staley: »[hyphen] AMERICANS«

Martin Frech

Por­träts mit langen Be­lich­tungs­zeiten haben ihren eigenen Stil. Die abgebildete Per­son zeigt auf solchen Bildern eine eher gleichmütige Pose, das Gesicht einen ernsten Ausdruck, die Augen blicken starr. Solche Fotos verweisen nicht unbedingt auf den Charakter oder das Temperament des ab­ge­bil­de­ten. Die An­mu­tung ist über­wiegend das Er­geb­nis des Still­hal­tens.

Die­ser Ef­fekt ist auf den Kopfbildern aus dem 19. Jahr­hun­dert durchweg sichtbar; Be­lich­tungs­zeiten im Mi­nu­ten­be­reich waren da­mals die Regel. Als Stilmittel ein­ge­setzt, sind lange Be­lich­tungs­zeiten in der Por­trät­fo­to­gra­fie für mich auch heute noch reizvoll.

Schwarzweißbild: Ein Glasplatten-Negativ (Ambrotypie) mit dem Portrait eines Mannes steht kurz nach der Entwicklung neben dem Trockengestell. (Alle drei Fotos: Martin Frech, 2011)
Fo­to­gra­fie eines Por­traits, das ich als Am­bro­ty­pie auf schwarzem Glas an­ge­fer­tigt habe; Repro eines Sil­ber­ge­la­ti­ne-Abzugs. (Alle drei Fotos: Martin Frech, 2011)
Schwarzweißbild: Ein Glasplatten-Negativ (Ambrotypie) mit dem Portrait eines Mannes steht kurz nach der Entwicklung neben dem Trockengestell. (Alle drei Fotos: Martin Frech, 2011)

Lange Be­lich­tungs­zeiten sind na­tür­lich kein exklusives Merkmal der Ar­beit mit sil­ber­haltigen Emul­sio­nen. Den­noch wird für ent­spre­chen­de Pro­jek­te gerne mit klas­sisch­er Tech­nik ge­ar­bei­tet, mitunter sogar mit his­to­ri­schen Ver­fah­ren.

So hat die 1977 ge­bo­re­ne ame­ri­ka­ni­sche Photographin Keliy Anderson-Staley für ihr Pro­jekt »[hyphen] AMERI­CANS« in den vergangenen Jahren hunderte von Tin­type-Por­träts an­ge­fer­tigt. Etwa 180 wurden kürz­lich in der Light Work Gallery (Syracuse/NY) aus­ge­stel­lt;⁠1 im Katalog sind 43 abgedruckt.⁠2 Auf ihrer Website ist eben­falls eine Auswahl zu sehen.⁠3

Die Künst­le­rin ar­bei­tet mit Ka­me­ras und Objektiven aus dem 19. Jahr­hun­dert – nicht primär aus nos­tal­gi­schen Gründen. Im In­ter­view mit Brendan Carroll betont sie die Vorteile der his­to­ri­schen Tech­nik für ihr Pro­jekt.⁠4 Anderson-Staley ar­bei­tet bei offener Blende und mit Be­lich­tungs­zeiten um zehn Sekunden, un­ge­fähr eine Ge­dan­ken-Länge. Dies und die geringe Schär­fen­tie­fe (sie fokusiert wie üblich auf die Augen) lässt die Por­träts für sie lebendiger er­schei­nen als wenn sie mit aktueller Tech­nik arbeitete. Da­rü­ber hi­naus bedingen die tech­ni­schen Ge­ge­ben­hei­ten bei jeder Platte ver­schie­de­ne Defekte in der Emul­si­on, Schlieren und andere Un­re­gel­mä­ßig­kei­ten – für die Künst­le­rin eine Ent­spre­chung zur mensch­li­chen Un­voll­kom­men­heit.

Der Ti­tel »[hyphen] AMERICANS« betont, dass es sich bei den Ab­ge­bil­de­ten um Ame­ri­ka­ner handelt. Der [Bindestrich] verweist je­doch darauf, dass die Wurzeln im Stammbaum vieler Ame­ri­ka­ner nicht in Amerika sind. Die­ser Umstand kommt häufig zum Ausdruck, wenn die Per­so­nen etwa als chinesisch-ame­ri­ka­nisch, afri­ka­nisch-ame­ri­ka­nisch oder irisch-ame­ri­ka­nisch be­schrie­ben wer­den. Ein Teil der ame­ri­ka­ni­schen Identitäten ist durch­aus von diesen Her­kunfts-/Vor­fah­rens-Wurzeln ge­prägt. Ge­mein­sam ver­bin­det alle je­doch der andere Teil, eben die ame­ri­ka­ni­sche Identität, die Anderson-Staley im Ti­tel ihrer Serie hervorhebt. Die Künst­le­rin legt Wert darauf, dass die Be­trach­ter­in oder der Betrachter den Her­kunfts-Aspekt, auf den man etwa aus den Ge­sichts­zügen schließen könnte, aktiv verdrängt. Die Bilder sollen also nicht im Kon­text einer in­te­r­es­sen­ge­lei­tet­en Iden­ti­täts­po­li­tik ge­sehen wer­den.


Fußnoten.
1⁠ ⁠lightwork.org/archive/keliy-anderson-staley-hyphen-americans/ [2025-02-16]
2Keliy Anderson-Staley: [hyphen] AMERICANS. In: Contact Sheet 163 (2011), S. 1 – 49.
3⁠ ⁠http://www.andersonstaley.com/gallery.html?folio=portfolios&gallery=Tintype%20Portraits [2011-11-27; 2020-05-17]
4Brendan Carroll: Keliy Anderson-Staley. Online verfügbar: ⁠ ⁠http://brendanscottcarroll.wordpress.com/2011/07/12/keliy-anderson-staley/ [2011-11-27; 2020-05-17]
ahttps://www.medienfrech.de/foto/NzF/2014-03-17_Martin-Frech_Das-nasse-Kollodiumverfahren-eine-fotohistorische-Verortung.html

Weiterlesen: ⁠ ⁠Das Nasse Kol­lo­di­um­ver­fah­ren – eine fo­to­his­to­ri­sche Verortunga

Zitierempfehlung (.BibTeX, .txt):
Frech, Martin: »Keliy Anderson-Staley: ›[hyphen] AMERICANS«. In: Notizen zur Fotografie, 2011-11-27. Online: https://www.medienfrech.de/foto/NzF/2011-11-27_Martin-Frech_Keliy-Anderson-Staley-hyphen-AMERICANS.html
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Frech, Martin: »Keliy Anderson-Staley: ›[hyphen] AMERICANS‹«. In: Notizen zur Fotografie, 2011-11-27. Online: https://www.medienfrech.de/foto/NzF/2011-11-27_Martin-Frech_Keliy-Anderson-Staley-hyphen-AMERICANS.html$1