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»Unbeugsam und un­ge­bän­digt: Do­ku­men­ta­ri­sche Fo­to­gra­fie um 1979«, Museum Ludwig, Köln (Aus­stel­lung)

Martin Frech

Über den Ti­tel die­ser Aus­stel­lung habe ich – ob seiner Komplexität – lange nach­ge­dacht. In so we­ni­gen Wörtern so viel zu verpacken, das ist schon eine Kunst für sich.

beugen: beuge, beugst, beugt, beugen, beugt, beugen; ein schwa­ches Verb.
Neben den ei­gent­li­chen Bedeutungen wie krümmen, neigen oder biegen, wird das Wort auch gerne ge­braucht im Sinne von sich fügen, nachgeben, sich unterwerfen; aber auch für sich untertan machen, Druck ausüben oder be­zwin­gen.
In der Sprach­wis­sen­schaft kennen wir beugen als flektieren: es steht für das Ab­wan­deln eines Wortes in seinen gram­ma­ti­schen Formen.

Das Adjektiv beugsam steht laut Duden für bereit, unter Druck nachzugeben, sich zu fügen.
Unbeugsam be­deu­tet dem­ent­spre­chend sich nicht durch je­man­den in seiner Haltung be­ein­flus­sen lassend.

Aber gibt es denn eine »beugsame« Fo­to­gra­fie? Ist das ein biegbarer Fo­to­ab­zug? Ich stelle mir einen un­kaschier­ten Abzug vor, den ich biegen kann; die »un­beug­same« Fo­to­gra­fie wäre dann bei­spiels­wei­se auf Hart­fa­ser­plat­te auf­ge­zo­gen.

Oder ist »beugsame« Fo­to­gra­fie, die­je­ni­ge, die unter (po­li­ti­schem) Druck ent­steht; bzw. her­ge­stellt wird von ei­nem Fo­to­gra­fen, der sich unterwirft – und etwa die Ver­ant­wor­tung für seine Bild­er­zeug­nis­se abgibt an den kom­mer­ziel­len oder politischen Auf­trag­ge­ber?

Wohl Letzteres. Ich verstehe den Ti­tel so, dass er auf die Haltung der Bildautoren anspielt: Vor allem im Kon­text »1979« weist uns das Adjektiv »unbeugsam« darauf hin, dass in der Aus­stel­lung Au­to­ren­fo­to­gra­fie (Honnef, 1979) ge­zeigt wird. Also Ar­bei­ten von selbst­be­wuss­ten (Bild-)Autoren, die ihre Werke ei­gen­ver­ant­wort­lich (ethischer Stand­punkt) und mit einer eigenen Bildsprache (äs­the­ti­scher Stand­punkt) anfertigten.

bän­di­gen: bändige, bändigst, bändigt, bän­di­gen, bändigt, bän­di­gen; auch ein schwa­ches Verb. Es be­deu­tet – um es kurz zu machen –, etwas oder je­man­den trotz star­ken Wider­stan­des unter seinen Willen zwingen.

Un­ge­bän­digt ist schon schwerer zu fassen. Im Kon­text des Aus­stel­lungs­ti­tels könnte es für ungezähmt oder wild stehen. Tut es auch, aber in ei­nem über­tra­ge­nen Sinne.

Denn 1980 erschien in Paris der Essay La chambre claire. Note sur la photographie. von Roland Barthes. (Die deutsche Über­set­zung erschien 1985 bei Suhrkamp unter dem Ti­tel Die helle Kammer. Bemerkung zur Pho­to­gra­phie.) Darin un­ter­schei­det der Autor zwei viel zitierte Wir­kungs­ar­ten von Fo­to­gra­fie, das »studium« und den »punctum«. In der Lesart der Aus­stel­lungs­macher­in Barbara Engelbach ergeben sich daraus zwei Um­gangs­wei­sen mit Fo­to­gra­fie: ihre äs­the­ti­sche Zäh­mung (Kunst) sowie das Zu­las­sen ihrer un­ge­bän­dig­ten Wir­kung (Abbild der Re­al­ität).

Das un­ge­bän­digt in der Über­schrift zur Aus­stel­lung verweist also auf das Barthes-Zitat vom »Erwachen der un­beug­sa­men Re­al­ität« im Me­di­um der Fo­to­gra­fie.

(Dass sich »studium« vs. »punctum« bzw. Kunst vs. Wir­kung nicht wider­spre­chen müs­sen, ist klar; gerade hier kann die Fo­to­gra­fie ja ihre Stärke ausspielen.)

Soviel zu den vor­an­ge­stel­lten Adjektiven. Doch was ist »Do­ku­men­ta­ri­sche Fo­to­gra­fie«? Da die De­fi­ni­ti­ons­leis­tung die­ser Bezeichnung ja eher gering ist, muss ich wieder etwas ausholen.

Jede Fo­to­gra­fie (ich lasse die Kon­kre­te Fo­to­gra­fie jetzt mal außen vor) verweist auf etwas vor der Ka­me­ra ge­we­se­nes und ist damit immer auch ein Do­ku­ment. Zu­min­dest wenn man auf den mit­tel­latei­ni­schen Ursprung des Begriffs zurückgeht: ein documentum ist ein Beweis, es kann etwas erhellen.
Das gilt sicher un­ab­hängig von den Ent­ste­hungs­be­din­gun­gen des Fotos, weswegen das »do­ku­men­ta­risch« im Aus­stel­lungs­ti­tel wohl nicht als Abgrenzung zu einer – wie auch immer ge­mein­ten – künst­le­ri­schen Fo­to­gra­fie zu ver­ste­hen ist.
(Im Ge­gen­teil – und eher Thomas Weski folgend, der erklärte, Fo­to­gra­fie im do­ku­men­ta­ri­schen Stil sei eine künst­le­ri­sche Fo­to­gra­fie mit den Mitteln des Do­ku­men­ta­ri­schen.)

Hilf­reich für mich sind hier die De­fi­ni­tio­nen von Timm Starl (in Butins »Be­griffs­lexi­kon zur zeit­ge­nös­si­sch­en Kunst«) und Abigail Solomon-Godeau (in Wolfs »Dis­kurse der Fo­to­gra­fie«).

Starl un­ter­schei­det zwi­schen der ar­chi­va­li­schen, der do­ku­men­ta­ri­schen und der kon­zep­tu­ellen do­ku­men­tar­fo­to­gra­fie. Der ar­chi­va­li­sche An­satz ist dabei ein en­zy­klo­pä­di­scher und beim kon­zep­tu­ellen geht es eher um die Geste. Mit do­ku­men­ta­ri­scher Do­ku­men­tar­fo­to­gra­fie meint Starl eine Fo­to­gra­fie, die von den Interessen der Fo­to­gra­fen, ihren Stim­mungen und ihren Er­fahr­un­gen ge­lei­tet ist.

Für Solomon-Godeau ist do­ku­men­ta­ri­sche Fo­to­gra­fie klar historisch verortet und hat sprachliche sowie kulturelle Bezüge. Wich­tig ist ihr, sich beim Be­trach­ten der Bilder deren subjektiven Ent­ste­hungs­be­din­gun­gen bewusst zu sein: Die Bilder lassen sich nicht uni­ver­sa­lis­tisch lesen. Do­ku­men­ta­ri­sche Fo­to­gra­fie hat also Be­kennt­nis-Charakter.

Ab­schlie­ßend verortet der Aus­stel­lungs­ti­tel die Schau zeitlich: »um 1979«.
Barbara Engelbachs Aus­gangs­punkt war Roland Barthes Buch, das in jener Zeit ent­stand. Sie wollte in ihrer Aus­stel­lung Bilder zei­gen, die zur Ent­ste­hungs­zeit des Textes fo­to­gra­fiert wurden. Aber na­tür­lich nicht irgend­welche Bilder.

Barbara Engelbach sieht die 1970er-Jahre (mit Eric Hobsbawm) als Kri­sen­jahre, in denen sich die Welt veränderte. Das ist nach­voll­zieh­bar: Apartheid (bis 1994), Vi­et­nam­krieg (bis 1975), Ostpolitik (1970 Brandts Kniefall in Warschau), Gei­sel­nah­me bei der Olympiade 1972, meine Einschulung (1972), Gast­ar­bei­ter (Anwerbestop 1973), Öl­kri­se 1973/74 (daraufhin die Anti-Atom­kraft-Be­we­gung), Watergate- und Guillaume-Affären (beide 1974), Deutscher Herbst (1977), Revolution im Iran, das Ende von Somozas Regime in Nicaragua und der Beginn des sowjetisch-af­gha­ni­schen Kriegs (alles 1979), NATO-Dop­pel­be­schluss (1979, daraufhin Ent­ste­hen der neuen, breiten Frie­dens­be­we­gung, die in den frühen 1980er-Jahren eine große öffentliche Wir­kung erzielte), Grün­dung der Partei »Die Grünen« und erster Golf­krieg (1980), AIDS wird als ei­gen­stän­di­ge Krankheit erkannt (1981), Michail Gor­bat­schow wird Ge­ne­ral­se­kre­tär der KPdSU (1985), Glasnost (1986), Atomreaktor-Ka­ta­stro­phe in Tscher­no­byl (1986), Perestroika (1987).

Viel Stoff also zum Fo­to­gra­fie­ren. Doch was sehen wir in der Aus­stel­lung – außer Werken von Robert Adams, wie uns schon das Plakat verrät?

Ausstellungsplakat zur Ausstellung ›Dokumentarische Fotografie um 1979‹ an der Außenfassade des Museum Ludwig in Köln. (Foto: Martin Frech, 9/2014)
Museum Ludwig: ›Do­ku­men­ta­ri­sche Fo­to­gra­fie um 1979‹, Aus­stel­lungs­pla­kat außen (Foto: Martin Frech, 9/2014)
Ausstellungsplakat zur Ausstellung ›Dokumentarische Fotografie um 1979‹ an der Außenfassade des Museum Ludwig in Köln. (Foto: Martin Frech, 9/2014)

Unbeugsam und un­ge­bän­digt: do­ku­men­ta­ri­sche Fo­to­gra­fie um 1979 – unter diesem Ti­tel wer­den in Köln 14 fo­to­gra­fi­sche Serien von 13 Fo­to­gra­fin­nen und Fo­to­gra­fen ge­zeigt (die Nothhelfers zähle ich hier als Einheit) und nach der do­ku­men­ta­ri­schen Haltung der Autoren befragt (auf­zei­ch­nen vs. sichtbar machen im Barthes’schen Sinne, s⁠.⁠ ⁠o⁠.). Da sich diese Haltung auch im Ge­brauch der Fotos zeigt, wer­den zu jeder Ar­beit fünf Fragen auf Texttafeln beantwortet, u⁠.⁠ ⁠a⁠. in wessen Auf­trag die Auf­nah­men ent­stan­den und wo sie erst­ver­öf­fent­licht wurden.
vertretene Po­si­ti­on­en:

David Gold­blatt fo­to­gra­fier­te seine Serie im Auf­trag einer Stiftung als Bildbericht zu einer Armuts-Studie in Südafrika. Alle an­de­ren ge­zeig­ten Ar­bei­ten ent­stan­den auf Ei­gen­in­i­ti­a­ti­ve der Künst­ler. Jour­na­lis­ti­sche Ar­bei­ten sind in der Aus­stel­lung nicht ver­tre­ten (Ute Klophaus bewegt sich, denke ich, in ei­nem Grenzbereich). In­so­fern wäre – um noch ein Mal auf den Ti­tel zu­rück­zu­kom­men – »Fo­to­gra­fie im do­ku­men­ta­ri­schen Stil« (Evans, 1971) prä­zi­ser ge­we­sen als Über­schrift denn »Do­ku­men­ta­ri­sche Fo­to­gra­fie«.

Was waren die Kriterien für Auswahl?
Sicherlich der Ent­ste­hungs­zeit­punkt, »um 1979«. Wir sehen al­ler­dings Werk­kom­plexe, die zwi­schen 1969 und 1987 ent­stan­den sind – das »um« ist also eher groß­zü­gig aus­ge­legt.
Die Ar­bei­ten sollten laut Pres­se­mit­tei­lung zu­dem in der Aus­ei­nan­der­set­zung mit dem aus den Krisen re­sul­tie­ren­den »globalen Wandel« der 1970er/1980er-Jahre ent­stan­den sein.
Au­ßer­dem waren offenbar Serien gefragt, keine Ein­zel­bilder.

Warum wer­den manche Serien komplett ge­zeigt und aus an­de­ren nur Auszüge? So schön es ist, die Kom­plexe von Adams oder Ruff komplett zu sehen, ist es doch schade, dass die Nothhelfers oder Joachim Brohm nur mit so we­ni­gen Bildern ver­tre­ten sind.

Weitere Kriterien? Ich weiß es nicht – im­mer­hin bin ich nicht mit Insider-In­for­ma­ti­on­en aus­ge­stat­tet, sondern schrei­be hier aus meiner Besucher-Perspektive.
Vielleicht eine regionale Vielfalt? Die Hälfte der Serien »spielt« nicht in Deutsch­land.
Vielleicht die Er­reich­bar­keit der Ar­bei­ten? Bis auf vier Serien (die Ar­bei­ten von Gold­blatt, Ishiuchi und Singh sowie Mikhailovs »Rote Serie«) stammen die ge­zeig­ten Ar­bei­ten aus den eigenen Museum-Ludwig-Beständen. (Die Kuratorin nennt den Katalog auch einen »Bei­trag zur Auf­ar­bei­tung der Samm­lung«.)

Es ist klar, dass Barbara Engelbach trotz des Bezugs auf die Kri­sen­jahre um 1979 keine Ge­schichts­aus­stel­lung zei­gen wollte. Und wohl auch keine politischen Ar­bei­ten – oder warum fehlt bei­spiels­wei­se der de­zi­diert politische Allan Sekula (* 1951, † 2013), der sowohl als Fo­to­graf als auch als Theoretiker des Do­ku­men­ta­ri­schen nachhaltig her­vor­ge­tre­ten ist?

Aus­nah­men sind Sanja Iveković’ »Triangle«, die Do­ku­men­ta­ti­on einer Per­for­mance, mit der die Künst­le­rin gezielt die ju­go­sla­wi­sche Po­li­zei provozierte (aber eben nicht mit den Fotos, die mir die Aktion ohne den Text nicht vermitteln), und eventuell David Gold­blatts Nacht­auf­nah­men über Le­bens­be­din­gun­gen im Apart­heid­re­gime. Auch wenn mich Ruffs Por­traits re­gel­mäßig an das da­mals überall zu sehende RAF-Fahn­dungs­pla­kat er­innern (»Anar­chis­ti­sche Ge­walt­tä­ter – Baader/Meinhof-Ban­de –«; in­nen­po­li­tisch findet in den Jahren um 1979 der Übergang von der ersten zur zwei­ten Generation der RAF statt), ist das in meinen Augen keine politische Ar­beit. (Gerhard Richter hat seinen RAF-Zy­klus übri­gens erst 1988 gemalt.)

Eigenartig finde ich, dass Barbara Engelbach die DDR-Fo­to­gra­fie komplett außen vor lässt [gut gepasst hätten bei­spiels­wei­se Ar­bei­ten von Evelyn Richter (* 1930) oder die »Fähre« (1979 – 1981) von Helfried Strauß (* 1943)].
Vermisst habe ich auch den Krisen-Do­ku­men­tar Eugene Smith (* 1918) (⁠ ⁠über den ich hier schon ge­schrieben habea), doch der ist ja bereits 1978 ge­stor­ben. Vielleicht arbeitete er, der Erfinder des Foto-Essays, auch zu jour­na­lis­tisch für diesen Kon­text. Aber wäre das ein Aus­schluss­kri­te­ri­um?

Und was er­zäh­len die Bilder über die »Krisen« bzw. den »globalen Wandel«, mithin Stich­wort­ge­ber der Aus­stel­lung?
So direkt – gar nichts. Wie auch? Fotos sind notorisch schwach kodiert, um sie zu lesen und im Sinne des Autors zu ver­ste­hen, brauchen wir den Kon­text und die Ge­schich­te ihrer Ent­ste­hung; das wusste schon Brecht.

Ich greife ein Beispiel heraus, analog gilt das für alle in der Aus­stel­lung ver­sam­mel­ten Ar­bei­ten.

Robert Adams zeigt uns mit »Our Lives and Our Children« anonyme Kinder, Er­wach­se­ne und Autos auf Park- und an­de­ren Plätzen. Die Fotos sind schwarz­weiß, kon­trast­reich und leicht von unten auf­ge­nom­men, ge­le­gent­lich schief kadriert, manch­mal unscharf – ohne Sta­tiv auf­ge­nom­me­ne Schnapp­schüsse aus dem Alltag.
Die Autos, die Kleidung usw. geben uns ungefähre Hin­weise auf die Ent­ste­hungs­zeit. Die Orte sind nicht zu fassen, es scheint sich häufig um Parkplätze zu handeln. Aus den Gesichtern, die immer an der Ka­me­ra vor­bei­schau­en, kann man alles mög­li­che herauslesen.

Ein wichtiges Thema der 1970er-Jahre war die atomare Bedrohung – sowohl durch die zi­vi­le, als auch die militärische Nutzung der Atom­kraft. Die erste Öl­kri­se (1973/74) beförderte welt­weit den Ausbau der Atom­wirt­schaft, der NATO-Dop­pel­be­schluss von 1979 die atomare Auf­rüs­tung. In den Atomanlagen kommt es immer wieder zu »Störfällen«; zu­dem entweichen auch im Nor­mal­be­trieb häufig radioaktive Sub­stan­zen. Am 28. März 1979 kam es im neu erbauten Atom­kraft­werk »Three Mile Island Nuclear Generating Station« (bei Harrisburg/Pennsylvania in den USA) zu einer Teil-Kernschmelze – ein GAU, der bis heute nachwirkt. (Die Ka­ta­stro­phe von Tscher­no­byl ereignete sich sieben Jahre spä­ter am 26. April 1986.)

Diese Thematik ist die Klammer für Robert Adams’ in der Aus­stel­lung gezeigte Ar­beit. In Denver/Colorado fo­to­gra­fier­te er Men­schen, u⁠.⁠ ⁠a⁠. auf Parkplätzen von Ein­kaufs­zent­ren. Er arbeitete im Stil der »street photography«, mit einer – bei­spiels­wei­se hinter einer Ein­kaufs­tüte – versteckten Hasselblad SW.
In der Nähe seiner Schauplätze befand sich die skan­dal­träch­ti­ge Atom­waf­fen­fa­brik »Rocky Flats nuclear weapons plant« (in Betrieb von 1952 – 1992), in der Plutonium verarbeitet – und frei­ge­setzt – wurde.
1984 er­schie­nen Adams Bilder im Buch »Our Lives and Our Children: Pho­to­graphs Taken near the Rocky Flats Nuclear Weapons Plant«.

Kon­text der Fo­to­serie ist also die atomare Bedrohung. Mit diesem Wissen kann man die Ge­sich­ter an­ders deuten. Es ist dann nach­zu­voll­zie­hen, dass Adams mit seinen Fotos auf eine unsichtbare Bedrohung hinweisen wollte. Wäre die einordnende Er­zäh­lung eine andere, würde ich etwas völlig anderes aus diesen Bildern lesen.
Adams subtiles Vorgehen ist eine Art des Umgangs mit dem Thema.

In den 1970er-Jahren entwickelte sich auch hierzulande die Anti-Atom­kraft-Be­we­gung. Joachim Radkau hat sie ein­mal als den größten und ge­dan­ken­reichs­ten öffentliche Dis­kurs der Bun­des­re­pu­blik be­zeich­net. Günter Zint (*1941) ist einer ihrer Chronisten; er hat die Sze­ne jahrelang als Aktivist mit der Ka­me­ra begleitet (»Gegen den Atomstaat«).
Zints Methode ist eine andere Art des Umgangs mit dem Thema. Für mich wäre es spannend ge­we­sen, Adams’ und Zints Bilder parallel zu sehen.

Es ist gut, dass Texttafeln die Fotos kon­tex­tu­a­li­sie­ren – ein zarter di­dak­ti­scher An­satz. Für meinen Ge­schmack dürf­ten die Texte aus­führ­li­cher sein; schön wäre auch ein »Apparat« parallel zur Aus­stel­lung ge­we­sen. (In diesem Sinne ar­gu­men­tier­te ja auch Markus Scha­den mit seiner temporären Installation »The Photo­Book­Museum«.)

Eine Entdeckung war für mich der Fo­to­graf Karl C. Kugel. Seine Bilder einer Deutsch­land­reise vom Früh­jahr 1983 (»um 1979«!) haben mich ebenso begeistert wie die Präsentation auf Lesepulten. Die Mög­lich­keit, diese Ar­beit direkt mit Mikhailovs »Serie von vier« zu vergleichen, fand ich spannend.

Was diese Aus­stel­lung für mich au­ßer­dem se­hens­wert macht, ist das Ne­ben­ein­an­der so un­ter­schied­lich­er Aus­drucks­wei­sen für ähnliche Thematiken. Die Por­traits der Nothhelfers und die von Derek Bennet, den ich im üb­ri­gen auch noch nicht kannte; Höfers eher selten gezeigte Ar­beit in Nach­bar­schaft zu Brohms Land­schaf­ten oder Singhs Bildern aus Kalkutta und Mikhailovs »Rote Serie«.

Von Karl C. Kugel würde ich gerne mehr Fotos sehen und wissen, wie er nach diesem Frühwerk wei­ter­ge­ar­bei­tet hat. Doch meine Recherchen stocken; er ist weder in Koetzles Fo­to­gra­fen­lexi­kon eingetragen (gut, das sagt noch nichts, dort fehlen viele), noch habe ich via In­ter­net sub­s­tan­zi­el­les ge­fun­den.
Weiß jemand meiner Leser mehr? Über Kommentare freue ich mich!

Der Katalog (Deutsch/Englisch) ist bei Snoeck er­schie­nen. Neben ei­nem ein­füh­ren­den Text der Kuratorin Barbara Engelbach wird jede der in der Aus­stel­lung ge­zeig­ten Ar­bei­ten mit aus­ge­wähl­ten Bildern vor­ge­stellt. Un­ter­schied­liche Autoren haben dazu je­weils kurze Texte verfasst.

Um 1979 – Unbeugsam und un­ge­bän­digt: Do­ku­men­ta­ri­sche Fo­to­gra­fie um 1979. Ausst.-Kat. Museum Ludwig 2014. Hg. von Barbara Engelbach. Köln: Snoeck, 2014. 192 S. ISBN 978-3-86442-102-0


Fußnoten.
ahttps://www.medienfrech.de/foto/NzF/2011-10-04_Martin-Frech_William-Eugene-Smith-ein-James-Joyce-der-Fotografie.html
Unbeugsam und un­ge­bän­digt: Do­ku­men­ta­ri­sche Fo­to­gra­fie um 1979
Kuratorin: Barbara Engelbach
Museum Ludwig KölnHein­rich-Böll-Platz
50667 Köln
28.06. bis 05.10.2014, verlängert bis 16.11.2014museum-ludwig.de/de/ausstellungen/unbeugsam-und-ungebaendigt.html
nun im Archiv: ⁠ ⁠museum-ludwig.de/de/ausstellungen/rueckblick/2014/unbeugsam-und-ungebaendigt.html [2020-05-20]
Zitierempfehlung (.BibTeX, .txt):
Frech, Martin: »›Unbeugsam und un­ge­bän­digt: Do­ku­men­ta­ri­sche Fo­to­gra­fie um 1979‹, Museum Ludwig, Köln (Aus­stel­lung)«. In: Notizen zur Fotografie, 2014-11-10. Online: https://www.medienfrech.de/foto/NzF/2014-11-10_Martin-Frech_Unbeugsam-und-ungebaendigt-Dokumentarische-Fotografie-um-1979-Museum-Ludwig-Koeln-Ausstellung.html
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Zitierempfehlung:
Frech, Martin: »›Unbeugsam und un­ge­bän­digt: Do­ku­men­ta­ri­sche Fo­to­gra­fie um 1979‹, Museum Ludwig, Köln (Aus­stel­lung)«. In: Notizen zur Fotografie, 2014-11-10. Online: https://www.medienfrech.de/foto/NzF/2014-11-10_Martin-Frech_Unbeugsam-und-ungebaendigt-Dokumentarische-Fotografie-um-1979-Museum-Ludwig-Koeln-Ausstellung.html$1