Gedanken zu Tobias D. Kern: »Wo Sophia wohnt« (2024)

Ich werde in meinem Vortrag Martin Heidegger zitieren und Sie werden ihn reden hören. Ich will hier weder auf Heideggers Philosophie noch auf sein Verhältnis zum Nationalsozialismus und seinen Antisemitismus eingehen – wer sich dafür interessiert, wird schnell fündig; entsprechende Quellen sind leicht zugänglich.

Wann waren Sie zuletzt im Wald? Bei mir ist das schon wieder ein paar Wochen her. Damit bin ich wohl guter Durchschnitt: Knapp drei Viertel der Deutschen sind mindestens alle drei Monate im Wald anzutreffen, vor allem zum Spazieren, Wandern und ›Waldbaden‹ – Fotografieren wird in dieser drei Jahre alten repräsentativen Umfrage nicht als Grund genannt, in den Wald zu gehen. ¹

Könnte sein, dass Tobias öfter durch den Wald streift; immerhin zeigen wir dieses Jahr nach den Bilder zu Büchners Lenz² schon seine zweite Arbeit, die dort entstand. Auch sein »Hartmannswillerkopf« (2016–2018)³ und die »Stigmata« (2012) fand er im Wald – und wahrscheinlich manch anderes, das wir noch nicht kennen.

»Fotografische Themen finde ich weiterhin im Wald – warum auch immer :-)«, hat er mir kürzlich geschrieben. 

Ich habe Tobias bewusst nicht zum Kontext und zur Entstehung seiner aktuellen Arbeit befragt, sondern mich in deren Lektüre vertieft und hier aufgeschrieben, wie die Bilder zu mir sprechen, welchen Assoziationsraum sie mir eröffnen.
Daran lasse ich Sie im Folgenden teilhaben.

Tobias D. Kern in seiner Ausstellung (Foto: Claudia Maas)
Tobias D. Kern in seiner Ausstellung (Foto: Claudia Maas, 11/2024)
Tobias D. Kern in seiner Ausstellung (Foto: Claudia Maas)

Aber Sie wissen natürlich schon Bescheid, der Macht des Werktitels sei’s gedankt. Wir sehen Bauten von Kindern oder Bauten für Kinder: Buschwerkverstecke, Tipis, Schlupfwinkel – im lichten Wald errichtet aus Ästen und Baumstämmen, manchmal zusammengebunden.

Tobias zeigt uns diese Bauten als anonyme Skulpturen: ganz transparent, ohne Blattwerk oder Planen – quasi im Rohbau. Oder schon aufgelassen, im Verfall? Eine gewisse postapokalyptische Ästhetik will ich den menschenleeren Bildern nicht absprechen. Die Fotos lassen das offen, wie so vieles andere auch: Den Kontext dieser Bauten müssen wir erahnen (oder den Bildautor fragen, das ist ja das Tolle an einer Vernissage).

Es gibt ein paar Spuren: mal einen fensterlosen Bauwagen im Hintergrund, mal improvisierte Sitzgelegenheiten, einmal eine Plattform aus Brettern mit einem Seil, hoffentlich zum Klettern oder Schaukeln – allerdings gebunden wie ein Henkersstrick. Erschreckend, wie kleine Details den Grundton setzen.

Die Bilder wirken eigenartig entrückt. Wir sehen nicht, was die Strukturen zeitlich oder räumlich verbindet. Vielleicht stehen sie nahe beisammen, bilden quasi ein Dorf; oder Tobias hat sie in verschiedenen Wäldern gefunden. Möglicherweise ist die Sammlung von Bildern über mehrere Jahre entstanden. Das Schwarzweiß erschwert die jahreszeitliche Einordnung.

Die Bildunterschriften könnten weitere Hinweise geben. »Hier wohnt …« Sophia, Matteo, Leon, Emilia usw. Die Vornamen helfen beim Datieren, wir finden sie alle auf auf den ersten Plätzen der Liste der beliebtesten Vornamen 2018 ff.  Sind die gezeigten Bilder halbwegs aktuell, wären die Kinder also im Kindergartenalter. Ein dezenter Hinweis des Fotografen, dass es sich vielleicht um Areale von Waldkindergärten handelt. Der auf einem Bild gezeigte Bauwagen stützt diese These.

Die Arbeit will offensichtlich keine entsprechende Dokumentation sein. Fotografien haben aber nicht nur als visuelle Aufzeichnungen einen historischen Wert. Es sind vor allem Dokumente darüber, was der Fotograf wie von seiner Umgebung zeigen will und über seine Einstellung zum Motiv; sozialhistorische Aussagen nicht ausgeschlossen.

Und hier kommt für mich der meditative Aspekt des Fotografierens ins Spiel. Für Tobias, der hinter der Kamera und dann im roten Licht seiner Dunkelkammer sicher viel Zeit mit den Bilder verbracht hat, kann ich hier nicht sprechen.

Beim Betrachten der Bilder frage ich mich aber schon irgendwann: »Warum hat er gerade das fotografiert?«
Hier liegt es für mich nahe, dass die Arbeit irgendwas mit »dem Wohnen« zu tun hat.

Das »Hier wohnt …« der Bildtitel steht im Präsens. Die »Architekturen« sehen auf den Bildern aber nicht so aus, als würden die Kinder in den Bauten wirklich wohnen können oder wollen. Andererseits: die Postapokalypse …

Martin Heidegger kommt mir in den Sinn und sein Aufsatz »Bauen Wohnen Denken« von 1951. Dort schreibt er:

Der Lastzugführer ist auf der Autobahn zu Hause, aber er hat dort nicht seine Unterkunft; die Arbeiterin ist in der Spinnerei zu Hause, hat jedoch dort nicht ihre Wohnung; der leitende Ingenieur ist im Kraftwerk zu Hause, aber er wohnt nicht dort. 

[Während des Vortrags wurde der entsprechende O-Ton eingespielt. ]

Man könnte ergänzen: Das Kindergartenkind ist die Woche über im Wald zu Hause, hat jedoch dort nicht seine Wohnung.

Heidegger weist uns im Weiteren darauf hin, dass das ahd. »buan« – Wurzel unseres heutigen »Bauens« – »wohnen« bedeutet, i. S. von bleiben, sich aufhalten und fragt dann, wie wir dieses »Wohnen« denken müssen.

Im heutigen Sprachgebrauch ist wohnen nur ein Verhalten neben anderen Verhaltensweisen – für viele beinahe eine Untätigkeit.
Ursprünglich steckt »buan« aber auch in unserem »sein« (ich bin, du bist) und geht zurück auf die Weise, auf der wir Menschen auf der Erde sind.

Das ist aber noch nicht alles: Das Wort »buan« wandelte sich zu pflegen/hegen (den Acker bauen).
Die Idee ist, dass dieses Bauen ›nur‹ hütet. Ein Bauer stellt also nichts her, sondern hütet das Wachstum. (Der Vogelbauer baut ja auch nicht den Vogel i. S. unseres heutigen Gebrauchs Bauen=Errichten, sondern behaust diesen.)

Im heutigen Sprachgebrauch wird das Wort bauen also recht eindimensional genutzt, die Bedeutung wohnen wurde verdrängt.
Für Martin Heidegger ist das allerdings mehr als nur ein Bedeutungswandel: »… das Wohnen wird nicht als das Sein des Menschen erfahren; das Wohnen wird vollends nie als der Grundzug des Menschseins gedacht.« ¹⁰

Und weiter:

Hören wir jedoch auf das, was die Sprache im Wort bauen sagt, dann vernehmen wir dreierlei:

  1. Bauen ist eigentlich Wohnen.

  2. Das Wohnen ist die Weise, wie die Sterblichen auf der Erde sind.

  3. Das Bauen als Wohnen entfaltet sich zu Bauen, das pflegt, nämlich das Wachstum, – und zum Bauen, das Bauten errichtet.

Bedenken wir dieses Dreifache, dann vernehmen wir einen Wink und merken uns folgendes: Was das Bauen von Bauten in seinem Wesen sei, können wir nicht einmal ausreichend fragen, geschweige denn sachgemäß entscheiden, solange wir nicht daran denken, daß jedes Bauen in sich ein Wohnen ist. Wir wohnen nicht, weil wir gebaut haben, sondern wir bauen und haben gebaut, insofern wir wohnen, d. h. als die Wohnenden sind. ¹¹

[Während des Vortrags wurde der entsprechende O-Ton eingespielt. ¹²]

Das Bedürfnis, sich Behausungen zu bauen, ist ja bei Kindern häufig zu beobachten. Wenn sie klein sind mit Decken und Kissen oder dem Zelt im Wohnzimmer, später dann mit Brettern und Nägeln auf dem Abenteuerspielplatz; das Baumhaus ist auch so ein Klassiker.
Und das, obwohl die Kinder ja hoffentlich behaust und behütet aufwachsen: Das ist wohl eine Prägung aus lange vergangenen Zeiten. Die sprachgeschichtlichen Exkurse von Martin Heidegger erklären dieses Verhalten für mich ein Stück weit.

Neben dem ästhetischen Vergnügen, das Tobias’ perfekte Handabzüge bereiten, ist es das, was ich aus der Lektüre der Fotos mitnehme: Die semantisch schwache Kodierung der Bilder eröffnet ein weites Feld, über die Welt nachzudenken. Wieder ein Zeichen, dass Fotografieren etwas mit Kommunikation zu tun hat. Ihre Assoziationen werden wahrscheinlich andere sein – vielleicht bringen die Bilder uns ins Gespräch.

Tobias zitiert in seiner Selbstdarstellung den Fotografen Robert Häusser, eines seiner Vorbilder: »Man muss das photographieren, was mit einem selbst zu tun hat, mit der eigenen Weltanschauung, was einen innerlich wirklich bewegt …« ¹³

Diesen Anspruch löst Tobias mit seiner Arbeit »Wo Sophia wohnt« ein weiteres Mal ein: Danke für die inspirierende Ausstellung!


Fußnoten.
1↬ sinus-institut.de/media-center/presse/studie-zum-internationalen-tag-des-waldes [2025-01-29]
2»Versuche zu Büchners Lenz und Celans Todesfuge (Der Reflex des Wiedererkennens #5)« Ausstellung in der Reihe Fotografie und Dichtung in der schaelpic photokunstbar, Köln (03.05.–12.07.2024); schaelpic.de/#ausstellung-53 [2025-01-31]
3Frech, Martin: »Tobias D. Kern: »Hartmannswillerkopf« (2016–2018)«. In: Notizen zur Fotografie, 2019-12-06. Online: → medienfrech.de/foto/NzF/2019-12-06_Martin-Frech_Tobias-D-Kern-Hartmannswillerkopf.html
4Frech, Martin: »Tobias D. Kern: »Stigmata««. In: Notizen zur Fotografie, 2012-09-24. Online: → medienfrech.de/foto/NzF/2012-09-24_Martin-Frech_Tobias-D-Kern-Stigmata.html
5pers. Mail an den Autor vom 24.10.2024
6↬ beliebte-vornamen.de [2025-01-29]
7Martin Heidegger: »Bauen Wohnen Denken«. In: Darmstädter Gespräch ; Mensch und Raum. Hg. Otto Bartning. Darmstadt: Neue Darmstädter Verlagsanstalt, 1952. S. 72–84
8a. a. O., S. 72
9IkarusKK (05.01.2017): Martin Heidegger – Vortrag »Bauen Wohnen Denken« (1951). [Video] YouTube. ↬ youtube.com/watch?v=mqSSzgg5eio: 2:30–3:05 [2025-01-31]
10a. a. O., S. 74
11a. a. O., S. 74
12a. a. O.: 15:50–17:39 [2025-01-31]
13↬ tdk-photo.de/projekte [2025-01-29]
Tobias D. Kern: Wo Sophia wohnt ; Architekturen von Kindern im Wald
Ausstellungsort: ↬ schaelpic photokunstbar
Schanzenstraße 27
51063 Köln
Tel. (02 21) 29 99 69 20
Ausstellungsdauer:
2. Dezember 2024 bis 21. Februar 2025
(Mo. bis Fr., 10 bis 18 Uhr
und nach Vereinbarung)
Zitierempfehlung (auch als BibTeX verfügbar):
Frech, Martin: »Gedanken zu Tobias D. Kern: »Wo Sophia wohnt« (2024)«. In: Notizen zur Fotografie, 2025-01-30. Online: https://www.medienfrech.de/foto/NzF/2025-01-30_Martin-Frech_Gedanken-zu-Tobias-D-Kern-Wo-Sophia-wohnt-2024.html