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Ge­dan­ken zu Tobias D. Kern: »Wo Sophia wohnt« (2024)

Martin Frech
Abstract.
Am 1. Dezember 2024 wurde in der schael­pic pho­to­kunst­bar in Köln die Aus­stel­lung »Wo Sophia wohnt« von Tobias D. Kern er­öff­net. Zur Ein­führ­ung habe ich einen Vortrag ge­hal­ten, den ich hier do­ku­men­tie­re.

Ich werde in mei­nem Vortrag Martin Hei­deg­ger zitieren und Sie wer­den ihn reden hören. Ich will hier weder auf Heideggers Phi­lo­so­phie noch auf sein Verhältnis zum Na­ti­o­nal­so­zi­a­lis­mus und seinen An­ti­se­mi­tis­mus ein­ge­hen – wer sich dafür interessiert, wird schnell fündig; ent­spre­chen­de Quel­len sind leicht zu­gäng­lich.

Wann waren Sie zuletzt im Wald? Bei mir ist das schon wieder ein paar Wochen her. Damit bin ich wohl guter Durch­schnitt: Knapp drei Viertel der Deutschen sind min­des­tens alle drei Monate im Wald anzutreffen, vor allem zum Spazieren, Wandern und ›Waldbaden‹ – Fo­to­gra­fie­ren wird in die­ser drei Jahre alten re­prä­sen­ta­tiven Um­frage nicht als Grund genannt, in den Wald zu gehen.⁠1

Könnte sein, dass Tobias öfter durch den Wald streift; im­mer­hin zei­gen wir die­ses Jahr nach den Bildern zu Büchners Lenz⁠2 schon seine zwei­te Ar­beit, die dort ent­stand. Auch sein »Hart­manns­willer­kopf« (2016–2018)⁠3 und die »Stig­ma­ta« (2012)⁠4 fand er im Wald – und wahr­schein­lich manch anderes, das wir noch nicht kennen.

»Fo­to­gra­fi­sche Themen finde ich wei­ter­hin im Wald – warum auch immer :-)«, hat er mir kürz­lich ge­schrieben.⁠5

Ich habe Tobias bewusst nicht zum Kon­text und zur Ent­ste­hung seiner ak­tu­ellen Ar­beit befragt, sondern mich in deren Lektüre vertieft und hier auf­ge­schrie­ben, wie die Bilder zu mir sprechen, welchen As­so­zi­a­ti­ons­raum sie mir er­öff­nen.
Daran lasse ich Sie im Fol­gen­den teilhaben.

Tobias D. Kern in seiner Ausstellung (Foto: Claudia Maas, 11/2024)
Tobias D. Kern in seiner Aus­stel­lung (Foto: Claudia Maas, 11/2024)
Tobias D. Kern in seiner Ausstellung (Foto: Claudia Maas, 11/2024)

Aber Sie wissen na­tür­lich schon Bescheid, der Macht des Werktitels sei’s gedankt. Wir sehen Bauten von Kindern oder Bauten für Kinder: Busch­werk­ver­stecke, Tipis, Schlupf­win­kel – im lichten Wald errichtet aus Ästen und Baum­stäm­men, manch­mal zu­sam­men­ge­bun­den.

Tobias zeigt uns diese Bauten als anonyme Skulpturen: ganz transparent, ohne Blatt­werk oder Planen – quasi im Rohbau. Oder schon auf­ge­las­sen, im Verfall? Eine ge­wis­se post­apo­ka­lyp­ti­sche Ästhetik will ich den men­schen­leeren Bildern nicht ab­sprech­en. Die Fotos lassen das offen, wie so vieles andere auch: Den Kon­text die­ser Bauten müs­sen wir erahnen (oder den Bild­autor fragen, das ist ja das Tolle an einer Vernissage).

Es gibt ein paar Spuren: mal einen fen­ster­lo­sen Bau­wa­gen im Hin­ter­grund, mal im­pro­vi­sierte Sitz­ge­le­gen­hei­ten, ein­mal eine Plattform aus Brettern mit ei­nem Seil, hoffentlich zum Klettern oder Schau­keln – al­ler­dings ge­bun­den wie ein Henkers­strick. Er­schreck­end, wie kleine Details den Grund­ton setzen.

Die Bilder wirken eigenartig entrückt. Wir sehen nicht, was die Struk­tu­ren zeitlich oder räumlich ver­bin­det. Vielleicht stehen sie nahe beisammen, bilden quasi ein Dorf; oder Tobias hat sie in ver­schie­de­nen Wäldern ge­fun­den. Mög­lich­er­weise ist die Samm­lung von Bildern über mehrere Jahre ent­stan­den. Das Schwarz­weiß er­schwert die jahres­zeit­li­che Einordnung.

Die Bild­un­ter­schrif­ten könnten weitere Hin­weise geben. »Hier wohnt …« Sophia, Matteo, Leon, Emilia usw. Die Vor­namen helfen beim Datieren, wir finden sie alle auf auf den ersten Plätzen der Liste der be­lieb­tes­ten Vor­namen 2018 ff.6 Sind die ge­zeig­ten Bilder halbwegs ak­tu­ell, wären die Kinder also im Kin­der­gar­ten­al­ter. Ein dezenter Hin­weis des Fo­to­gra­fen, dass es sich vielleicht um Areale von Wald­kin­der­gär­ten handelt. Der auf ei­nem Bild gezeigte Bau­wa­gen stützt diese These.

Die Ar­beit will offen­sicht­lich keine ent­spre­chen­de Do­ku­men­ta­ti­on sein. Fo­to­gra­fien haben aber nicht nur als visuelle Auf­zeich­nun­gen einen his­to­ri­schen Wert. Es sind vor allem Dokumente da­rü­ber, was der Fo­to­graf wie von seiner Umgebung zei­gen will und über seine Ein­stel­lung zum Motiv; so­zial­his­to­ri­sche Aussagen nicht aus­ge­schlos­sen.

Und hier kommt für mich der meditative Aspekt des Fo­to­gra­fierens ins Spiel. Für Tobias, der hinter der Ka­me­ra und dann im roten Licht seiner Dun­kel­kam­mer sicher viel Zeit mit den Bilder verbracht hat, kann ich hier nicht sprechen.

Beim Be­trach­ten der Bilder frage ich mich aber schon irgend­wann: »Warum hat er gerade das fo­to­gra­fiert?«
Hier liegt es für mich nahe, dass die Ar­beit irgendwas mit »dem Wohnen« zu tun hat.

Das »Hier wohnt …« der Bildtitel steht im Präsens. Die »Ar­chi­tek­tu­ren« sehen auf den Bildern aber nicht so aus, als würden die Kinder in den Bauten wirk­lich wohnen können oder wollen. An­de­rer­seits: die Post­apo­ka­lyp­se …

Martin Hei­deg­ger kommt mir in den Sinn und sein Aufsatz »Bauen Wohnen Denken« von 1951.⁠7 Dort schreibt er:

Der Last­zug­füh­rer ist auf der Autobahn zu Hause, aber er hat dort nicht seine Un­ter­kunft; die Arbeiterin ist in der Spinnerei zu Hause, hat je­doch dort nicht ihre Woh­nung; der leitende Ingenieur ist im Kraftwerk zu Hause, aber er wohnt nicht dort.⁠8

[Während des Vortrags wurde der ent­spre­chen­de O-Ton ein­ge­spielt.⁠9]

Man könnte ergänzen: Das Kin­der­gar­ten­kind ist die Woche über im Wald zu Hause, hat je­doch dort nicht seine Woh­nung.

Hei­deg­ger weist uns im Wei­te­ren darauf hin, dass das ahd. »buan« – Wurzel unseres heu­tigen »Bauens« – »wohnen« be­deu­tet, i⁠.⁠ ⁠S⁠. von blei­ben, sich aufhalten und fragt dann, wie wir die­ses »Wohnen« denken müs­sen.

Im heu­tigen Sprach­ge­brauch ist wohnen nur ein Verhalten neben an­de­ren Ver­hal­tens­wei­sen – für viele bei­na­he eine Un­tä­tig­keit.
Ur­sprüng­lich steckt »buan« aber auch in un­se­rem »sein« (ich bin, du bist) und geht zu­rück auf die Weise, auf der wir Men­schen auf der Erde sind.

Das ist aber noch nicht alles: Das Wort »buan« wandelte sich zu pflegen/hegen (den Acker bauen).
Die Idee ist, dass die­ses Bauen ›nur‹ hütet. Ein Bauer stellt also nichts her, sondern hütet das Wachstum. (Der Vogelbauer baut ja auch nicht den Vogel i⁠.⁠ ⁠S⁠. unseres heu­tigen Ge­brauchs Bauen=Errichten, sondern behaust diesen.)

Im heu­tigen Sprach­ge­brauch wird das Wort bauen also recht ein­di­men­sio­nal ge­nutzt, die Be­deu­tung wohnen wurde verdrängt.
Für Martin Hei­deg­ger ist das al­ler­dings mehr als nur ein Be­deu­tungs­wan­del: »… das Wohnen wird nicht als das Sein des Men­schen erfahren; das Wohnen wird vollends nie als der Grundzug des Menschseins gedacht.«⁠10

Und weiter:

Hören wir je­doch auf das, was die Sprache im Wort bauen sagt, dann ver­neh­men wir dreierlei:

  1. Bauen ist ei­gent­lich Wohnen.

  2. Das Wohnen ist die Weise, wie die Sterblichen auf der Erde sind.

  3. Das Bauen als Wohnen entfaltet sich zu Bauen, das pflegt, nämlich das Wachstum, – und zum Bauen, das Bauten errichtet.

Bedenken wir die­ses Dreifache, dann ver­neh­men wir einen Wink und merken uns fol­gen­des: Was das Bauen von Bauten in seinem Wesen sei, können wir nicht ein­mal aus­rei­chend fragen, geschweige denn sachgemäß ent­schei­den, solange wir nicht daran denken, daß jedes Bauen in sich ein Wohnen ist. Wir wohnen nicht, weil wir gebaut haben, sondern wir bauen und haben gebaut, in­so­fern wir wohnen, d⁠.⁠ ⁠h⁠. als die Wohnenden sind.⁠11

[Während des Vortrags wurde der ent­spre­chen­de O-Ton ein­ge­spielt.⁠12]

Das Bedürfnis, sich Behausungen zu bauen, ist ja bei Kindern häufig zu beobachten. Wenn sie klein sind mit Decken und Kissen oder dem Zelt im Wohnzimmer, spä­ter dann mit Brettern und Nägeln auf dem Aben­teu­er­spiel­platz; das Baum­haus ist auch so ein Klassiker.
Und das, ob­wohl die Kinder ja hoffentlich behaust und behütet aufwachsen: Das ist wohl eine Prägung aus lange vergangenen Zei­ten. Die sprach­ge­schich­tli­chen Ex­kurse von Martin Hei­deg­ger er­klä­ren die­ses Verhalten für mich ein Stück weit.

Neben dem äs­the­ti­schen Vergnügen, das Tobias’ per­fek­te Handabzüge bereiten, ist es das, was ich aus der Lektüre der Fotos mitnehme: Die semantisch schwa­che Kodierung der Bilder er­öff­net ein weites Feld, über die Welt nach­zu­den­ken. Wieder ein Zei­chen, dass Fo­to­gra­fie­ren etwas mit Kom­mu­ni­ka­ti­on zu tun hat. Ihre As­so­zia­tio­nen wer­den wahr­schein­lich andere sein – vielleicht bringen die Bilder uns ins Gespräch.

Tobias zitiert in seiner Selbst­dar­stel­lung den Fo­to­gra­fen Robert Häusser, eines seiner Vorbilder: »Man muss das pho­to­gra­phie­ren, was mit ei­nem selbst zu tun hat, mit der eigenen Welt­an­schau­ung, was einen innerlich wirk­lich bewegt …«⁠13

Diesen Anspruch löst Tobias mit seiner Ar­beit »Wo Sophia wohnt« ein weiteres Mal ein: Danke für die in­spi­rie­ren­de Aus­stel­lung!


Fußnoten.
1⁠ ⁠sinus-institut.de/media-center/presse/studie-zum-internationalen-tag-des-waldes [2025-01-29]
2»Versuche zu Büchners Lenz und Celans Todesfuge (Der Reflex des Wie­der­er­ken­nens #5)« Aus­stel­lung in der Reihe Fo­to­gra­fie und Dichtung in der schael­pic pho­to­kunst­bar, Köln (03.05.–12.07.2024); ⁠ ⁠https://schaelpic.de/#ausstellung-53 [2025-01-31]
3Frech, Martin: »Tobias D. Kern: »Hart­manns­willer­kopf« (2016–2018)«. In: Notizen zur Fo­to­gra­fie, 2019-12-06. Online: medienfrech.de/foto/NzF/2019-12-06_Martin-Frech_Tobias-D-Kern-Hartmannswillerkopf.html
4Frech, Martin: »Tobias D. Kern: »Stig­ma­ta««. In: Notizen zur Fo­to­gra­fie, 2012-09-24. Online: medienfrech.de/foto/NzF/2012-09-24_Martin-Frech_Tobias-D-Kern-Stigmata.html
5pers. Mail an den Autor vom 24.10.2024
6⁠ ⁠beliebte-vornamen.de [2025-01-29]
7Martin Hei­deg­ger: »Bauen Wohnen Denken«. In: Darmstädter Gespräch ; Mensch und Raum. Hg. Otto Bartning. Darmstadt: Neue Darmstädter Ver­lags­an­stalt, 1952. S. 72–84
8a⁠.⁠ ⁠a⁠.⁠ ⁠O⁠., S. 72
9IkarusKK (05.01.2017): Martin Hei­deg­ger – Vortrag »Bauen Wohnen Denken« (1951). [Video] YouTube. ⁠ ⁠youtube.com/watch?v=mqSSzgg5eio: 2:30–3:05 [2025-01-31]
10a⁠.⁠ ⁠a⁠.⁠ ⁠O⁠., S. 74
11a⁠.⁠ ⁠a⁠.⁠ ⁠O⁠., S. 74
12a⁠.⁠ ⁠a⁠.⁠ ⁠O⁠.: 15:50–17:39 [2025-01-31]
13⁠ ⁠tdk-photo.de/projekte [2025-01-29]
ahttps://www.schaelpic.de/
Tobias D. Kern: Wo Sophia wohnt ; Ar­chi­tek­tu­ren von Kindern im Wald
Aus­stel­lungs­ort: ⁠ ⁠schael­pic pho­to­kunst­bara
Schan­zen­stra­ße 27
51063 Köln
Tel. (02 21) 29 99 69 20
Aus­stel­lungs­dau­er:
2. Dezember 2024 bis 21. Februar 2025
(Mo. bis Fr., 10 bis 18 Uhr
und nach Vereinbarung)
Zitierempfehlung (.BibTeX, .txt):
Frech, Martin: »Ge­dan­ken zu Tobias D. Kern: ›Wo Sophia wohnt‹ (2024)«. In: Notizen zur Fotografie, 2025-01-30. Online: https://www.medienfrech.de/foto/NzF/2025-01-30_Martin-Frech_Gedanken-zu-Tobias-D-Kern-Wo-Sophia-wohnt-2024.html
Zitierempfehlung:
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Zitierempfehlung:
Frech, Martin: »Ge­dan­ken zu Tobias D. Kern: ›Wo Sophia wohnt‹ (2024)«. In: Notizen zur Fotografie, 2025-01-30. Online: https://www.medienfrech.de/foto/NzF/2025-01-30_Martin-Frech_Gedanken-zu-Tobias-D-Kern-Wo-Sophia-wohnt-2024.html$1