Notizen zu Pier Paolo Pasolinis »Il Vangelo secondo Matteo«
Am 04.04.2025 wurde in der Kirche Sankt Maria in Lyskirchen (Köln) der Film Il Vangelo secondo Matteo (dt. Das 1. Evangelium – Matthäus) von Pier Paolo Pasolini aufgeführt. Zur Einführung habe ich über Pasolini und den Film geredet.
Pier Paolo Pasolini war eine singuläre Erscheinung: Er äußerte sich als Lyriker, als Romanautor und als Filmemacher; er war Parteisekretär der IKP (die ihn später ausschloss), hat an Drehbüchern für andere gearbeitet – so für Luis Trenker und Federico Fellini – und hat Theaterstücke verfasst; er hat unterrichtet, übersetzt und journalistisch geschrieben. Er war ein beachtlicher Zeichner, Maler und Fußballspieler, Filmtheoretiker und ist nicht zuletzt sprach- und literaturwissenschaftlich hervorgetreten.1 Pasolini wurde mindestens 300-mal interviewt2 und es ist fast klar, dass er auch viele Briefe geschrieben hat. Er war ein ungemein produktiver Mann mit einem schwer nachvollziehbaren Arbeitspensum. Allerdings: »Er selbst war in [den] Dingen des täglichen Lebens völlig unfähig, er konnte nicht einmal Kaffee kochen«3, darum kümmerte sich seine Mutter Susanna (1891–1981), mit der er zeitlebens zusammen wohnte.

Pasolini wurde und wird in Deutschland vor allem als Filmautor und als politischer Intellektueller wahrgenommen; »… daß er mit Jean-Paul Sartre der wichtigste (und kämpferischste) europäische Intellektuelle der Nachkriegszeit wurde, daß Pasolinis enorme künstlerische Produktivität erst in der Nachzeitigkeit vollständig zu wirken beginnt, das alles läßt sich erst von heute aus völlig erkennen.«4 Er hat aus unorthodox-marxistischer Perspektive Klassenherrschaft und Rassismus, Gender, Migration und Umweltzerstörung analysiert, bevor sie zu zentralen Themen unserer Gegenwart wurden.5
Für sein Werk bekam Pasolini bedeutende Auszeichnungen: u. a. den ›Premio Viareggio‹ 19576 für den Gedichtband Le ceneri di Gramsci (dt. Gramsci’s Asche)7, einen silbernen8 1971 und den ›Goldenen Bären‹9 der Filmfestspiele Berlin 1972 für Il decamerone (dt. Decameron) bzw. I Racconti di Canterbury (dt. Pasolinis tolldreiste Geschichten) sowie 1974 den Sonderpreis der Jury in Cannes10 für Il fiore delle mille e una notte (dt. Erotische Geschichten aus 1001 Nacht).
Der Freigeist Pier Paolo Pasolini wurde gehasst.11 Schlimme Pressekampagnen, Prozesse. Er musste sich in mindestens 78 Gerichtsverfahren verantworten, »fast alle angesiedelt am Schnittpunkt von Sexualität, Kunst und politischer Meinung«.12 In drei Prozessen wurde er rechtskräftig verurteilt – jeweils wegen zu schnellen Fahrens.
Pasolini hat um 1968 notiert: »Soweit ich das beurteilen kann, ist Leiden nicht notwendig …, es ist vielmehr unvermeidlich.«13
So sieht Peter Sloterdijk Pasolini denn auch als einen Geschlagenen in einer Reihe mit Schelling, Heine, Marx, Kierkegaard, Nietzsche, Spengler, Heidegger, Lessing, Freud und Adorno und stellt fest: »Es ist das Schmerz-Apriori – daß einem selbst die einfachsten Dinge des Lebens so schwer gemacht werden –, welches ihm kritisch die Augen öffnet.«14
Geboren 1922 in Bologna, ermordet 1975 auf einem Sportplatz in Lido di Ostia15, einem Vorort Roms, wurde Pier Paolo Pasolini nur 53 Jahre alt.
Pasolini war dem christlichen Glauben (in der katholischen Ausprägung) in einem spirituellen Sinne sein Leben lang verbunden.16 Als Erwachsener jedoch nicht mehr als praktizierender Christ (er hat sich als Atheist bezeichnet), vielmehr in der Auseinandersetzung mit dem Christentum und der Institution Kirche – sowie mit der Gestalt Jesu Christi, mit der er sich identifizieren konnte. Weitere wichtige Personen in diesem Kontext waren für ihn der Apostel Paulus17 und der Hl. Franziskus18.
Pasolinis Kritik an der Institution Kirche war immer verbunden mit der Hoffnung auf eine spirituelle Erneuerung der Kirche – in der Rückbesinnung auf Jesus. Was er an ihr ablehnte waren die hierarchischen, von Macht und Gewalt bestimmten Strukturen sowie ihre Verquickung mit dem Staat.
»Einige seiner wichtigsten einschlägigen Texte, […], wünschte man sich immer noch fast als Pflichtlektüre für alle, die heute in der Kirche Verantwortung tragen.«, so der em. katholische Theologieprofessor Reinhold Zwick (Münster)19.
Anfang der 1960er-Jahre nahm Pasolini an einer Tagung des Vereins ›Pro Civitate Christiana‹ in Assisi teil.20 Dort wurde er zu seinem siebten Film21 inspiriert – dem, den wir heute Abend zeigen: Il Vangelo secondo Matteo (dt. Das 1. Evangelium – Matthäus), dem Film, der sein wohl außergewöhnlichster werden sollte.
In Pasolinis Werkentwicklung folgerichtig, für die breite Öffentlichkeit jedoch eine Überraschung (von der Uraufführung auf dem Festival in Venedig22 bis heute) – ohne Kontext ist es eben schwer, dem dissidenten Kommunisten eine ernsthafte Bibelverfilmung zuzutrauen. Die Geschichte kennen Sie, der Titel verrät schon alles, spoilern ist in unserem Kulturkreis nahezu unmöglich.
Pasolini hält sich streng an das Evangelium nach Matthäus (ergänzt um zwei Passagen aus dem Buch des Propheten Jesaja): hinsichtlich der Geschichte, aber auch – und das ist sehr besonders – wortgetreu in der Gestaltung der Dialoge. Pasolini hat nichts hinzugefügt, aber deutlich gekürzt oder anders akzentuiert, beispielsweise die Wunder.23
Der Film beginnt direkt mit der Vorgeschichte des Wirkens Jesu; die Abstammungsliste mit den dreimal 14 Generationen seit Abraham lässt er aus. Blitzlichtartig entwickelt sich die Geschichte hin zu den handbuchartigen Aspekten Matthäus’ und stellt die Predigten in den Mittelpunkt. Der Film ist kein Historiendrama, er bringt die wichtigen Aspekte in Pasolinis Auseinandersetzung mit Marxismus und Christentum kraftvoll auf den Punkt.
1962 begann das II. Vaticanum, einberufen von Papst Johannes XXIII.; der Auftrag war pastorale und ökumenische Erneuerung. Johannes XXIII. starb 1963, Papst Paul VI. beendete das Konzil 1965. Der Jesus-Film, das Herzstück in Pasolinis filmischem Werk, entstand im Kontext des Konzils. Pasolini hatte ein Faible für Johannes XXIII., den volksnahen ›guten‹ Papst, dem er den Film dann auch widmete (nach ihm ist übrigens auch der Roncalli-Platz hier in Köln benannt). Eine Aufführung des Films für die während des Konzils versammelten Bischöfe fand großen Zuspruch.
Pasolini hat den Film in Süditalien gedreht, die meisten Szenen spielen im Freien, auf Kulissenbau wird weitgehend verzichtet; schnörkellos dokumentiert er die Landschaft um Matera. Aber nicht als Naturidylle oder zur Rekonstruktion der Wirklichkeit – die Landschaften sind für Pasolini »Analogien des antiken Palästina«.24 Die Geburt Christi filmte er in Materas Höhlensiedlungen, eine Kulisse, die Mel Gibson 40 Jahre später erneut für seinen Jesusfilm nutzte.25
Achten Sie auf die Filmmusik: Wir hören einen überraschenden Mix aus Mozart und Bach, Filmmusik von Prokofjew (die dieser ursprünglich für Eisenstein komponiert hatte), einem gesungenen Spiritual und anderem.
Ungewöhnlich ist auch die Besetzungsliste, da Pasolini hauptsächlich Laiendarsteller beschäftigt. Der damals 19-jährige Student Enrique Irazoqui stellt Jesus dar26, der heute als Philosoph bekannte Giorgio Agamben den Apostel Philippus und die Schriftstellerin Natalia Ginzburg gibt die Maria von Bethanien. Pasonlis Mutter Susanna spielt die gealterte Maria, die in der Kreuzigungsszene versucht, ihrem sterbenden Sohn nahe zu kommen.
Der Film wurde vom ›Päpstlichen Rat für die sozialen Kommunikationsmittel‹ als einer von 15 Spielfilmen unter der Kategorie »Religion« in die Liste besonders empfehlenswerter Filme aufgenommen. Er ist eine prima Einführung in Pasolinis Werk und gilt darüber hinaus als einer der 1001 Filme, die Sie sehen sollten, bevor das Leben vorbei ist.27
Genießen Sie die herrlichen Bilder des Kameramanns Tonino delli Colli, die exquisite Musik und den definitiv schönsten Engel der Filmgeschichte.

1 | ↑ vgl. folgende Biografien: Schweitzer, Otto: Pasolini. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1991. (= rowohlts monographien) ISBN 3-499-50351-9 Naldini, Nico: Pier Paolo Pasolini ; Eine Biographie. Berlin: Klaus Wagenbach, 2012. ISBN 978-3-8031-2679-5 als knappe Einführung gut geeignet: Laor, Yitzhak: »Christus in Kalabrien«. In: Lettre International, Frühjahr 2022, S. 120–126. |
2 | ↑ Pier Paolo Pasolini ; in persona ; Gespräche und Selbstzeugnisse. Hg. Gaetano Biccari. Berlin: Klaus Wagenbach, 2022. ISBN 978-3-8031-3716-6, S. 7 |
3 | ↑ Schweitzer, a. a. O., S. 57 |
4 | ↑ Bremer, Thomas: »Pier Paolo Pasolini«. In: Kritisches Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur. 1991. Online: Munzinger Online/KLfG: ↱ online. |
5 | ↑ Pier Paolo Pasolini, a. a. O., S. 10 |
6 | ↑ ↱ premioletterarioviareggiorepaci. |
7 | ↑ z. B. Pasolini, Pier Paolo: Gramsci’s Asche ; Gedichte ; Italienisch/ |
8 | ↑ ↱ berlinale. |
9 | ↑ ↱ berlinale. |
10 | ↑ ↱ festival- |
11 | ↑ »Ich lebe ohne jede Beziehung zum italienischen Kleinbürgertum. Ich pflege nur Beziehungen zum Volk oder zu Intellektuellen. Doch umgekehrt ist es dem Kleinbürgertum gelungen, mit mir in Beziehung zu treten. Und zwar mithilfe der Mittel, die ihm zur Verfügung stehen: Justiz und Polizei. Und es hat eine Reihe von Prozessen gegen mein Werk eingeleitet.« In: »›Mein Leben ist in meinen Büchern‹ ; Privatgespräch mit Kamera, 1967«. In: Pier Paolo Pasolini ; in persona. a. a. O., S. 89–94, hier: S. 93 |
12 | ↑ Bremer, a. a. O., S. 1 |
13 | ↑ Biccari, a. a. O., S. 193 |
14 | ↑ Sloterdijk, Peter: Kritik der zynischen Vernunft. Frankfurt/M.: Büchergilde Gutenberg, 1989. ISBN 3-7632-3547-7. S. 25 |
15 | ↑ Die Umstände von Pasolinis Ermordung sind nicht geklärt – einen Überblick über mögliche Szenarien finden Sie hier: ↱ culturmag. |
16 | ↑ vgl. z. B. Stochino, Emanuele: »Pier Paolo Pasolini and the Sacred«. In: New Theatre Quarterly, Vol. 39, Nr. 2, 2023. S. 103–123 DOI: ↱ doi. Zwick, Reinhold: Passion und Transformation. Biblische Resonanzen in Pier Paolo Pasolinis »mythischem Quartett«. Marburg: Schüren, 2014 (= Film und Theologie; 26) |
17 | ↑ Zwick, R. ; Reichardt, D. (Hrsg.): Pier Paolo Pasolini ; Der heilige Paulus ; mit einem Geleitwort von Dacia Maraini. Marburg: Schüren, 2007. ISBN 978-3-89472-495-5 |
18 | ↑ vgl. auch seinen Film Uccellacci e uccellini von 1965/ |
19 | ↑ Zwick 2014, a. a. O., S. 14 |
20 | ↑ ↱ it. |
21 | ↑ vgl. die Filmographie in Pier Paolo Pasolini ; »… mit den Waffen der Poesie«. Ausst. Kat. Berlin, Akademie der Künste, 15.09. bis 23.10.1994. Berlin: Akademie d. Künste, 1994. ISBN 3-88331-981-3. S. 22 |
22 | ↑ ↱ it. |
23 | ↑ Dersch, Christian: Passion und (Opfer-)Tod in Werken Pasolinis »Accattone«, »Mamma Roma«, »La Ricotta« und »Il Vangelo secondo Matteo«. Wien, Universität Wien, Magisterarbeit, 2013. S. 91 f. |
24 | ↑ Doll, Bernhard: »›An den verseuchten Tümpeln der Peripherie‹ ; Architektur und Landschaft in den Filmen Pasolinis.« In: Kraft der Vergangenheit ; Zu Motiven der Filme von Pier Paolo Pasolini Hg. Christoph Klimke. Frankfurt/M.: Fischer, 1988. S. 74 |
25 | ↑ ↱ de. |
26 | ↑ wie es dazu kam: Naldini, a. a. O., S. 257 |
27 | ↑ Jay, S. (Hrsg.): 1001 Filme die Sie sehen sollten, bevor das Leben vorbei ist. 6. akt. Aufl. Zürich: Olms, 2009 |